Fall Sinestra – Lisi

Die Sonne schien warm, doch nicht heiss, und zusammen mit dem Ploppen der Tennisbälle und dem weichen Rauschen der Lärchen am Hang sorgte sie für eine einschläfernd satte Nachmittagsstimmung, wie sie nur in einem Kurhaus herschen kann, wo Ruhe und Ruhen ein absolutes Agadium der Kursorge sind. (Für die Gäste zumindenst!) Irgendwo weiter oben wurde Croquet gespielt, es tönte, als wenn jemand verträumt immer den gleichen, tiefen Ton auf einem Xylophon anschlüge.
»Indian Summer«, bemerkte Frau Professor Kummer, die sich viel auf ihre Weltreisen einbildete, zum neben ihr liegenden Geheimrat Tobler. Der liess sich nicht anmerken, sie gehört zu haben. Die Frau Professor sank unzufrieden in ihren Liegestuhl zurück und wandte sich mit säuerlichem Gesicht zu Jaap: »Ober, bringen Sie mir einen ihrer vortrefflichen Rüeblisäfte. Und ein paar Kekse würden auch nicht schlecht anstehen.« Wie ihr Englisch war auch das schweizerdeutsche Wort für Karottensaft verzerrt von ihrem schneidend hochdeutschem Sprachductus.
Jaap schaute von dem widerspenstigen Liegestuhl auf, der sich weigerte, den Liegestand einzunehmen, und wusste für einen Moment nichts zu sagen. Die Frau Professor (der Titel sei zweifelhaft, behauptete Andrí) war berüchtigt, ja gar verrufen bei den Angestellten, weil sie immer unzufrieden war, das hatte er in dieser ersten Woche schon von mehrere Seiten erfahren. Sie blickte ihn mit ihren stechenden, grauen Augen scharf an. Ihre Haut wirkte wie plissiert über den kantigen Wangenknochen. Dass sie tief, beinahe ungesund tief gebräunt war, verstärkte diesen Effekt noch. »Nun stehen sie nicht herum wie ein Lackaffe, machen sie schon!«
Jaap enthielt sich einer schnippischen Antwort. Ribi hatte ihm in kürzester Zeit beigebracht, dass es sinnlos war, den Gästen zu widersprechen. Punkt eins: Die Gäste haben immer recht, und Punkt zwei: Sollte das einmal nicht der Fall sein, tritt automatisch Punkt eins in Kraft. So hatte Ribi es formuliert.
»Natürlich Frau Professor, ich werd’s ausrichten!«, murmelte er und wandte sich wieder dem Liegestuhl zu.
»Und ein bisschen dalli-dalli!«
»Ich tue mein Bestes!«, versicherte Jaap, »aber ich kann diesen Liegestuhl nicht so zurücklassen. Es wäre gefährlich, wenn sich jemand draufsetzte.«
»Ist das die Art, wie sie sich heutzutage erlauben, ihre Stammgästen zu bedienen?« Eine keifende, doch tiefe Stimme sprach dies in plump schweizerdeutsch gefärbten Hochdeutsch. Es war jener alte Mann, der Jaap schon bei seiner Ankunft auf dem Vorplatz angeraunzt hatte, jener Kommissär Studer. »Was denken sie sich eigentlich, wer sie sind, um unserer Frau Professor so zu kommen?« Er legte die knotige Hand auf den Rand ihres Liegestuhls, als lege er sie auf ihre Schultern. »Wissen sie eigentlich, wen sie da vor sich haben? Die Frau Professor ist einer der arriviertesten Gäste hier; als sie noch in ihren Windeln waren kam sie schon hier hinau…« ein giftiger Blick vom Liegestuhl liess ihn stocken.»Gehen sie schon, allez hopp! Bringen Sie das Gewünschte, und mir einen Dreier Fendant, und zwar nicht von dem Zeugs, das sie gegenwärtig diesen Spenglern ausschenken, sondern vom Guten!« Kommissär Studer ignorierte die vernichtenden Blicke, die ihn nach der Bemerkung von allen Seiten trafen, zuckte nur einmal mit dem Kopf zur Seite: Abfahren!
Jaap schluckte eine Antwort hinunter, drückte sich vom widerspenstigen Stuhl auf  … und da geschah es: Die runzelige Frau Professor, der giftige Kommissär, die ganze bunte Menge Gäste, die altmodischen Liegestühle, die mächtig aufragende Fassade der Kurhauses vor den Berggipfel, fein ziseliert gegen den azurblauen Himmel – sie verblassten im Nichts, als sich ein Gesicht in Jaaps Blickfeld schob. Schwarze Zöpfe umrandeten ein feines, vielleicht etwas spitzes Gesicht aus dem lärchengrüne Augen mit der Tiefe eines Bergsees glitzerten. Sie trug eine Art Schwesternhaube, die keck weiss gegen ihre schwarzen Haare abstach. Das Schwanenweiss ihrer Schwesternuniform trieb Jaap Tränen in die Augen und seine Kinnlade klappte herunter.
Lisi!

Ohne sich der Wirkung ihres Auftritts bewusst zu sein, sagte sie: »Bitte, Frau Professor, Ihr Biberpelz. Es tut mir leid, dass es so lange gedauerte hat, aber ich musste ihn aus der Trinkhalle holen; er war nicht auf Ihrem Zimmer.« Sie machte einen Knicks, der entweder ungeschickt oder aber spöttisch war, und eilte zur Treppe zurück. Ihr Schwesternschurz wehte wie eine milde Brise in einer heissen Sommernacht, ihre schwarzen Zöpfe hingen wie Girlanden über ihren zierlichen Rücken.
Jaap schnappte nach Luft, verhuscht und vergelstert. Hatte sie ihn überhaupt gesehen?
»He, sie da, ja, sie da!«, riss Kommissär Studers Stimme ihn aus seiner Trance. »Wird’s bald mit unserer Bestellung? Unglaublich«, meckerte er zur Frau Professor, »statt uns zu bedienen, gafft der Gäuggel der Schwester nach.«
Die Jugend von heute sei doch eine Schande, bekräftigte die Frau Professor, und ihr Pelz sei auch noch halb nass. Die Unzufriedenheit verwandelte ihre allzu rot geschminkten Lippen in dünnen Striche, ihr runzeliger Mund sah aus wie eine schlecht vernähte Kriegswunde.

 

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