Sie kamen zu einer schmale Holzbrücke, die einen tief ausgewaschenen Seitenbach überspannte. Jaap hielt die Hummel auf dem Ausweichplatz vor der Brücke an.
»Man bekommt ja zittrige Knie, wenn man das sieht. Meinst du, die Brücke trägt uns?«
»Die Brücke trägt sogar das Postauto! – Komm, ich muss das Express abliefern.«
»Nein, wart einen Moment, Schorsch.« Jaap drosselte die Hummel ab. Stille fiel auf sie herab wie eine verstaubte Militärwolldecke, schwer und ein wenig müffelig. Der Wald roch noch nach dem Regen von gestern. Irgendwo grollte unsichtbarer Steinschlag.
»Komm, wir hocken auf diesen Baumstamm am Wegrand und rauchen eine.«
»Und mein Express dann?«
»Kommst noch früh genug an. – Hast ja Zeit gewonnen, weil ich dich gezogen habe.«
»Auch wieder wahr! Aber nicht zu lang, gäüw!«
»Ach man, stel je niet aan!« Auf einmal war Jaap barsch. Diese Obrigkeitsgläublichkeit hier!
»Du brauchst jetzt nicht Holländisch zu reden. Es geht schliesslich um meine Pflicht. Und verstehe tu ich dich doch, – dem Sinne nach jedenfalls.«
Jaap zuckte mit den Achseln und setzte sich auf einen entrindeten Baumstamm am Wegrand. Er täschelte auf das Holz neben ihm. »Komm, hock! Ich mein es nicht bös!« Er zog seinen Beutel Shagtabak aus der Seitentasche seiner Lederjacke und begann, sich eine Zigarette zu rollen. »Komm schon!«
Seufzend setzte sich Schorsch neben ihn, ein bisschen nach vorne geneigt, die Ellbogen auf den Knien. »Vielleicht nehme ich meine Pflicht zu ernst, stimmt schon, aber ich bin so froh bei der RhB zu stiften! Und anzuraunzen brauchst mich darum nicht!«
»Neem me niet kwalijk! – Nimm’s mir nicht übel!« Jaap nahm einen tiefen Zug. »Wahrscheinlich bin ich unleidig, weil ich nicht weiss, was mich im Kurhaus Val Sinestra erwartet.«
»Lisi sicher nicht…«, versuchte es Schorsch mit einem Witz, korrigierte sich aber hurtig, als er sah, dass die Bemerkung nicht gut fiel, »also ich meine … es wird eine Überraschung … du bist eine Überraschung…« Dann wurde er still. Schweiss lief ihm über Stirn und Hände.
»Relax!«, setzte Jaap schliesslich wieder an, als er sah, dass Schorsch mehr auf dem Stamm herumzappelte als sass. »Entspann dich, heisst das auf Englisch! Wir machen es nicht zu lang. Ich hab nur einen Augenblick nötig, mich auf die ‘Überraschung’ vorzubereiten, um mich zu sammeln, wie man so schön sagt. Und ich will auch noch ein paar Dinge wissen über das Kurhaus. Kann ja nicht einfach aufkreuzen und nach Lisi fragen, oder? Stell dir vor: ein Holländer mit schwarzer Lederjacke und Töff!«
»Halbstarker!«, schnarpfte Schorsch, »Gesindel! Abfahren!«, imitierte der den Aufrechten Schweizer Bürger.
»Ja, so hab ich’s auch schon gehört! Nicht nur in der Schweiz. – Komm jetzt, rauch und gönn dir eine Pause!« Jaap zog seinen Zippo hervor und steckte seine Zigarette nochmals an. Sie war ausgegangen, weil der Tabak noch immer feucht war vom gestrigen Regen.
Jaap betrachtete in sich gekehrt den mattsilbrige Aansteker, den ihm Tante Esther zum Abschied geschenkt hatte. Er stellte sich vor, wie sie sich den Kaufpreis vom Mund abgespart hatte, und war auf einmal tief gerührt von dieser Schwester seiner Mutter, die ihm in seiner Pubertät wichtiger gewesen war als seine eigenen Eltern. »Die würden sogar dieses Feuerzeug missbilligen!«, murmelte er gedankenverloren.
Schorsch zündete sich eine Brissago an. Er entnahm seinem Rucksack einen Kanten Brot und ein gelbes Stück Speck in einer Papiertüte vom Usego. »Muss schon ganz schön hart gewesen sein, der Krieg. Das können wir Schweizer uns gar nicht vorstellen! – Nicht dass wir es breit hatten in der Zeit, bei Anbauschlacht und Markenheft, aber das echte Grauen haben wir natürlich nicht mitgemacht.« Er bot Jaap einen Schnäfel Speck an.
»Bei uns zu Hause in Gerzenstein war es im Krieg eigentlich besser als vorher: Der Vater war nämlich im Dienst. Dort soff er mit seinen Kumpanen und schlug nicht auch noch die Mutter! Und Hunger hatte wir auch nicht mehr als sonst!«
»Ihr in der Schweiz hattet Hunger?«
»Der Vater versoff den kleinen Schrankenwärterlohn meistens, und die Mutter wusch, um uns drei Kinder über Wasser zu halten. Hätt gestern nicht so über die Pizzokel quengeln dürfen. Ich weiss, was es heisst, Hunger zu leiden, genauso wie du!«
Schweigend starrte Jaap auf die weisse Asche an der Spitze seiner Zigarette. »Ja, das weiss ich«, nickte er schliesslich.
»Aber zum Glück verändern sich die Zeiten!« Schorsch blies einen Rauchring in die Engadiner Luft. »So schlimm wie früher, wo’s nur Bonzen gab und Arme, ist es nicht mehr. Nach dem Krieg war allen klar, dass es mit der alten Verteilung nicht mehr weitergehen konnte. Hier die Herren mit den goldenen Uhrketten über dem Ranzen, dort die Unterhunde, denen es auch mit fünfzehnstündigem Arbeitstag zu nichts reichte. Jedenfalls sagt das meine Gewerkschaft, der Eisenbahnerverband. Letzten Mai war sie bei uns zu Besuch, beim Stiftenverband dann in Chur. Ich muss ehrlich sagen, viel merk ich noch nicht davon, leider! Aber vielleicht ist es wahr, und es geht einfach langsam, vielleicht hat’s die nächste Generation besser…«
Der glühende Kern seiner Brissago war schon zwei Finger lang, Schorsch merkte nicht, dass er viel zu hart an seinem Zigarillo zog. »Studiert ich hätte schon gern. Eisenbahningenieur! Oder aber Deutschlehrer. Germanistik studieren und nur noch Bücher lesen! Aber der Sohn eines Bahnschrankenwärters kann doch nicht studieren! Da ist eine Stifti als Beamter bei der Bahn schon viel…« Schorsch streifte endlich seinen Aschenkegel am Baumstamm ab. »Aber doch, irgendwie haben sie schon recht. Die Zeiten haben sich geändert. So einen wie dich hätte es vor einigen Jahren noch nicht gegeben.
Ich meine so einen mit Lederjacke, Haartolle und Töff…« präzisierte er zögerlich. Jaap grunzte nur zur Antwort. Er rückte seinen Krawattenknopf zurecht, sog einen letzten Zug aus seiner Selbstgedrehten. Er wollte ins Kurhaus Val Sinestra und gleichzeitig wollte er nichts lieber, als seine Hummel umdrehen und so schnell wie möglich dem Engadin entfliehen.