Fall Sinestra – erste Begegnung

Jaap drehte sich eine Zigarette. Sein Vorrat Shagtabak aus Holland schrumpfte zusehends. Er würde wohl oder übel auf Schweizer Zigaretten umstellen müssen, wenn er im Engadin nicht schnell einen Laden mit offenem Zigarettentabak und –papier fand. Weil sein Zippo-Feuerzeug nass war, zupfte er ein Streichholz aus dem silberfarbigen Streichholzhalter und strich es an dessen Seite an. Die Flamme wärmte seine Handfläche, als er seine Kippe anzündete. Ein Tropfen fiel von seiner Augenbraue auf das Zigarettenpapier.

»Ist hier noch frei?«
Jaap, konsterniert den nikotinbraunen Flecken aus seiner Selbstgedrehten betrachtend, nickte nur. Ein junger Mann in schwarzer Bähnleruniform setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Huduwätter!«, murrte er, zog seinen Uniformhut vom Kopf und strich sich durchs kurzgeschnittene dunkelblonde Haar und über seinen Ringbart.
»Fast noch den Schnellzug nach Samedan verspätet abgeschickt, weil es wegen dem Regen so lang dauerte, bis alle Passagiere eingestiegen waren.« Ein scheuer Blick strich über den Tisch zu Jaap hinüber.
Als dieser endlich seine Augen vom braunen Fleck auf der Zigarette löste, stellte der Bähnler sich vor: »Ramseier, Schorsch! Stift bei der Rhätischen Bahn im zweiten Lehrjahr als Bahnbeamter. Seit diesen Jahr darf ich selbstständig einen Zug abschicken! – Jedenfalls wenn ein diplomierter Beamter mich beaufsichtigt. Oh! Den Überzug vergessen…« Er schälte den roten Überzug von seinem Hut und stürmte aus dem Lokal.

Schnelle Bekanntschaften hier, schmunzelte Jaap in sich hinein. Seine Irritation über Kälte, Regen und die nasse Selbstgedrehte war wie weggeblasen. Schorschs Mütze hatte eine Wasserlache auf dem Tisch zurückgelassen. Jaap tupfte sie mit Bierdeckeln auf, „Calanda Bräu“ stand darauf, ein stilisierter Steinbock war abgebildet.
Einen Schluck Tee später kam Schorsch zurück. »Entschuldigung! Musste den Überzug zurückbringen. Der Chef wird wütend, wenn wir Stifte ihn tragen. Nur zur Zugabfertigung dürfen wir ihn über die Mütze streifen.« Schorsch zog die Nase hoch und nieste. »Dann weiss der Lokführer, wer das Sagen hat bei der Abfahrt.« Der Stolz, dass ihm diese Aufgabe zuteil wurde, zog seine Mundwinkel hoch. »Und du? Bist auf Durchreise hier?«
Jaap hob die Schultern. »Das weiss ich noch nicht. Vielleicht reis ich durch, vielleicht bleib ich…«
»Deutscher?«
Jaap schüttelte entsetzt den Kopf. Einige Tropfen sprühten aufs Tischblatt. »Jaap van’t Schip, aangenaam!« Er erhob sich halb aus dem Stuhl und streckte Schorsch die Hand entgegen. »Niederländer bin ich, aus Amsterdam!«
»Holländer bist du … ja, waas!« Schorsch spitzte seine Lippen und schüttelte Jaap begeistert die Hand. »Wo hast du so gut Schweizerdeutsch gelernt? Man hört kaum einen Akzent!«
»Ich bin schon ein paar Wochen hier!« Jaap zupfte seine Krawatte zurecht und strich seine Haartolle in Form. Die Pomade vertrug sich schlecht mit dem Regen und blieb weisslich auf seiner Hand kleben. Er fegte sie am Hosenbein ab. »Und früher, vor zehn Jahren gleich nach dem Krieg, durfte ich schon einmal ein paar Monate in der Schweiz verbleiben. Da hab ich Schweizerdeutsch gelernt, das fällt einem als Kind ja leicht!«
»Ja das Schweizerdeutsch … die Sprache unseres Landes. Max Frisch hat in seinem letzten Roman geschrieben, dass sie höchst liebenswert, wenn auch nicht gerade klangschön sei, aber erdig-dinglich und bei näherem Hinhören durchaus nicht unzärtlich…«
»…und Hochdeutsch spreche ich lieber nicht, wenn ich nicht wirklich muss. Ihr nennt hier Deutschland spöttisch den Grossen Kanton; unsere Geschichte mit dem grossen Nachbarn hingegen ist ärger, schlimmer, denn sie waren unsere Besetzer! Sie haben Tausende meiner Landsleute auf dem Gewissen. Hochdeutsch spricht man einfach nicht, wenn man nicht gezwungen wird dazu. Als Niederländer hat man dadurch eine ganz selbsverständliche Abkehr von allen Deutschen, auch von der Sprache.«
»Abneigung…«
Jaap hob nochmals die Schultern, zu müde, sich mit Sprachfeinheiten zu beschäftigen.

 

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